Stand der Forschungen zur sprachlichen Höflichkeit
Seit einigen Jahrzehnten ist Höflichkeit auch Gegenstand von vielfältigen und differenzierten wissenschaftlichen Diskursen. Einen ersten Höhepunkt erlebte die Höflichkeitsforschung bis Mitte der 90er Jahre, wie eine Vielzahl empirischer Studien v.a. im angloamerikanischen Raum, prominente theoretische Konzepte v.a. dasjenige von Brown/Levinson (1987) und u.a. der von Watts, Ide und Ehlich (1992) herausgegebene, auf eine Sektion der Internationalen Vereinigung der Germanistik (IVG) zurückgehende Sammelband über Geschichte, Theorie und Praxis sprachlicher Höflichkeit veranschaulichen.
Dass dieser Sammelband 2005 eine zweite Auflage erfuhr, kann als Indiz für das wieder- und neuerwachte Interesse am Phänomen der sprachlichen Höflichkeit gewertet werden. Viele Fragen aus den damaligen Diskussionen sind als Forschungsdesiderate für die Zukunft geblieben, darunter Fragen der Theoriebildung und Methodenentwicklung, Fragen der Auswahl sprachlicher Untersuchungseinheiten sowie der Berücksichtigung soziokultureller Unterschiede, vor allem Alter, Generation, Sozialstatus u.a.m. Neue für die Höflichkeitsforschung relevante Fragen sind hinzugekommen.
Die lebhaften derzeitigen Forschungsaktivitäten werden auch durch zwei neuere Sammelbände veranschaulicht, die auf internationale Tagungen zurückgehen (Ehrhardt/Neuland 2009) sowie Ehrhardt/Neuland/Yamashita (2011) mit Ergebnissen der Sektion: „Sprachliche Höflichkeit zwischen Etikette und kommunikativer Kompetenz“ der IVG-Konferenz 2010 in Warschau. Dabei werden u.a. neue empirische Studie und kulturkontrastive Analysen sowie anwendungsorientierte Beiträge dokumentiert. Ein utb-Band zur Sprachlichen Höflichkeit (Ehrhardt/Neuland 2015) ist in Vorbereitung.
Eine wesentliche Fragestellung der neueren linguistischen Höflichkeitsforschung betrifft die Rolle der jüngeren Generationen im Umgang mit konventionalisierten sprachlichen Umgangsformen (dazu Neuland 2013). Ein Wandel von Verständnisweisen und Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit zeigt sich nicht nur in Veränderungen der Anredeformen und im Umgang mit Titeln, sondern auch in den Gruß- und Abschiedsformulierungen sowie im Umgang mit Duzen und Siezen. Inwiefern vor allem Jugendliche zu einem solchen Prozess zunehmender Ent-Distanzierung und Informalisierung des öffentlichen Sprachgebrauchs beitragen, ist auch in der Jugendsprachforschung noch eine ungelöste Fragestellung (Neuland 2008). Erste Hinweise deuten darauf hin (vgl. Neuland 2014a), daß Jugendliche spezifische informelle verbale und nonverbale Begrüßungsformen insbesondere gegenüber Gleichaltrigen bevorzugen und dabei zwischen Situations- und Adressatenbezug differenzieren.